Es wird wohltuend unpolitisch

Christian Thielemann erzählt von den Proben zu seiner Bayreuther "Ring"-Einstudierung

15. Juli 2006

»Ich musste innerhalb einer Woche einmal durch alle vier durch. Hier beginnt man ja gleich mit der Sitzprobe«: Nicht ganz ohne leises Stöhnen berichtet Christian Thielemann von den Schlussproben für seinen ersten »Ring des Nibelungen« bei den Bayreuther Festspielen. »Es erfordert«, sagt er, »eine ganz andere Art, sich die Kräfte einzuteilen.«

Am 26. Juli beginnt mit dem »Rheingold« der Premierenzyklus des neuen »Rings« im Wagner-Festspielhaus. Der Dramatiker Tankred Dorst (»Merlin«) führt Regie, und Thielemann dringt als derzeit vielleicht weltweit meist gesuchter Wagner-Dirigent quasi in den Olymp vor. Immerhin: Richard Wagner hat sich das Festspielhaus für die Uraufführung seiner Tetralogie errichten lassen.

»Das Genie Wagner ist so stark«

Kein Wunder, dass ein Künstler in Bayreuth jenen unverwechselbaren Geist verspürt, der das Unmögliche möglich macht. »Das Genie Wagner ist so stark«, sagt Thielemann, »dass Orchestermusiker hier freiwillig ihre Freizeit verbringen. Das sagt doch eigentlich schon alles.«

Eintrittskarten für Bayreuth zu bekommen, für einen neuen »Ring« zumal, zählt unter internationalen Musikfreunden zu den Hochleistungssportarten. Die Festspiele sind zehnfach überbucht. Und eine Neuinszenierung des zentralen Werks des Bayreuther Repertoires schraubt das Interesse noch einmal in exorbitante Höhen.

Bayreuther Revolutionsgeschichte

Nach der Wiedereröffnung des Festivals im Sommer 1951 hat Komponisten-Enkel Wieland Wagner mit seinen radikal entrümpelten, von magischen Lichtwirkungen getragenen Regiearbeiten von Bayreuth aus nicht nur den Wagner-Inszenierungsstil revolutioniert. Sein Bruder Wolfgang, der bis heute die Festspiele leitet, hat dann mit dem Engagement Patrice Chereaus zur Hundertjahrfeier des »Rings«, 1976, eine weitere Revolution angezettelt.
Seit damals ist die Diskussion ums Regietheater in der Oper nie mehr verstummt. Wie wird Tankred Dorsts Sicht auf Götter, Helden, Riesen und Zwerge?
»Weißt du, wie das wird?«, zitiert Thielemann einen »Ring«-Stabreim, »das kann ich natürlich auch nicht sagen. Es ist ja ein Phänomen, dass man hier in sechs Tagen vier Premieren rausbringt. Was die Regie angeht, wird es jedenfalls wohltuend unpolitisch«, meint der Kapellmeister, der mit Dorst bereits seit dem Vorjahr an der Umsetzung des Konzepts arbeitet und nie einen Zweifel daran gelassen hat, dass er selbst dafür sorgen wollte, die Anweisungen Wagners möglichst akribisch befolgt zu sehen. »Ich muss doch sehen, dass der Vorhang im richtigen Moment hochgeht und nicht irgendwo«, kommentierte er bereits nach seinem jüngsten Wiener Auftritt seine frühe Anreise zu den Bayreuther Proben.

Nun arbeitet er seit Wochen an der musikalischen Realisierung seiner Vorstellungen. Mit einem, wie er sagt, hochmotivierten Orchester, und mit einem »tollen Sängerensemble: Stephen Gould ist ein unglaublicher Siegfried, wir haben die besten Riesen, die man sich vorstellen kann, und Falk Struckmann ein famoser Wotan, der alles mitmacht und, mehr noch, der nicht nur folgt, sondern auch so viel anbietet. Ein wahrer Meistersinger«.

Oper nur noch in Bayreuth und Wien

Thielemann hat sich für diese Bayreuther Arbeit ganz neue Dirigierpartituren gekauft: »Und ich mache überhaupt keine Eintragungen! Das ist doch Quatsch, da so viel reinzuschreiben.« Ein paar Zeichen für wichtige Momente der Koordination oder des Innehaltens müssen genügen. »Es reicht doch, was da sowieso von Wagner schon drinsteht . . . «

Die vielen Verehrer des Dirigenten sehen das seit dem Jahr 2000 stetig wachsende Engagement in Bayreuth mit einem lachenden und einem weinenden Auge, denn Thielemann wird Oper so gut wie nur noch hier dirigieren. Eine "Meistersinger"-Serie in der Wiener Staatsoper im Jänner 2008 ausgenommen, die - wie zuletzt schon »Tristan« und »Parsifal« - wieder live für CD mitgeschnitten werden soll.

»Ich ziehe Wien allen anderen Häusern vor«, sagt er, »weil ich mich da wohl fühle, nicht nur, aber natürlich auch wegen des Orchesters. Die können etwas, ich weiß gar nicht, wer das noch kann, nämlich auf ein Nichts an Zeichen reagieren. Dieses Orchester ist ein solcher Seismograph, ein Wunder. Der ist natürlich dann auch hochgradig störanfällig. Ein kleines Sandkorn, das im falschen Moment rieselt, und alles ist verloren.«

»Ich verstehe Carlos Kleiber»

Die Wiener Philharmoniker sind neben den Berlinern und den Münchner, deren Chefdirigent er ist, auch das wichtigste Konzertorchester. Zuletzt, beim Gastspiel mit den Wienern in Baden Baden, »da ist uns eine Pastorale gelungen, die war hinreißend. Das sind die Momente, da wissen Sie, warum Sie das machen. Oft wissen Sie's ja nicht. Und wenn ich mich ärgern muss, dann hab' ich keine Lust.« So macht er sich denn rar: Ein Konzertprogramm in Wien, eines in Berlin und die vertraglich ausbedungenen Abende in München - samt dazugehörigen Tourneen, versteht sich. Mehr steht nicht auf Christian Thielemanns Kalender. »Ich will doch auch mal drei Wochen freihaben, wenn ich schon den ganzen Sommer in Bayreuth verbringe«, sagt er, und: »Ich weiß mir ja auch was anzufangen mit meiner Freizeit. Bin da ganz musikabstinent. Also, man soll's nicht übertreiben, aber ich verstehe Carlos Kleiber. Klasse statt Masse!«

Erinnert sich Christian Thielemann noch an seine ersten Wagner-Erlebnisse: »Klar! Karajan hat vor seinen ersten Salzburger Osterfestspielen konzertant den ersten Akt Walküre in Berlin gemacht. Da war ich acht. Und dann lagen die Platten zu Hause, die ich gehört habe. Meine Eltern waren ja seit den Fünfzigerjahren in Bayreuth. Aber sie haben mich nie gezwungen. Ich weiß noch: Den dritten Akt Meistersinger, als ich ihn zum ersten Mal hörte, fand ich: mit das Langweiligste, was es gibt!« Freilich: »Mit dem Tristan war's dann geschehen.«

↑DA CAPO