Der Bruckner-Zyklus

Gespräch über die Symphonien Anton Bruckners

»Bruckner Brücken«

Erschienen im Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde, 2015

An zwei Abenden gastiert die Sächsische Staatskapelle Dresden wieder unter der Leitung ihres Chefdirigenten Christian Thielemann im Großen Musikvereinsaal. Vorab sprach er über Reisen um die Welt und ins Innere der Musik, vor allem der von Anton Bruckner.

Für den Publikumsliebling Thielemann gelten Auftritte im Wiener Musikverein immer als eine Art „Heimspiel“ – und doch gehören die beiden Konzerte, die ihn im Mai wieder in denGoldenen Saal führen, zum umfangreichen Tournee-Programm des Orchesters. Reisen, dasbedeutet für Thielemann, wie er sagt, immer eine „immense Anstrengung“, vor allem, wenn esgilt, innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne mehrere Klimazonen zu bewältigen.

„Die Leute denken immer, das sei schön, wenn man viel herumkommt und ständig in tollen Hotels absteigt. Aber das ist nicht das Leben. Aber wenn man in Frankfurt bei null Grad ins Flugzeug steigt und in Abu Dhabi bei 27 Grad ankommt, zwei Tage später nach Tokio fliegt, wo es zwölf Grad hat, und dann in Hongkong gastiert, wo es bei 26 Grad feucht-nebelig ist, dann ist man irgendwann am Umkippen.“

Nicht zuletzt diese Faktoren sind dafürausschlaggebend, dass Thielemann als nicht sonderlich reisefreudiger Dirigent gilt.

Reisen mit Bodenhaftung

„Ich versuche“, sagt Thielemann, „nicht so viele Tourneen zu machen, weil ich den Eindruckhabe, dass Musiker, die ständig am Herumreisen sind, leicht die Bodenhaftung verlieren. Aber wenn es ans Reisen geht, dann will ich positiv an die Sache rangehen. Denkt man vonvornherein, dass etwas ganz entsetzlich werden wird, dann wird es meist auch ganzentsetzlich.“Davon kann natürlich bei den Reisen, die Thielemann mit seinen Dresdnern macht, keine Rede sein: „Wir machen da sehr schöne Erfahrungen“, sagt er und rechnet im Geiste dochstets mit ein, wie viel Zeit er letztendlich in seinem Haus in Potsdam verbringen kann. Sich dorthin immer wieder zurückzuziehen steht auf Thielemanns Agenda denn doch immer ganzoben und gehört für ihn in die Kategorie „wie ein vernünftiger Mensch leben“.Wobei das künstlerische Zuhause für ihn heute bedeutet: „Dresden. Ganz eindeutig.“

Nach Wien zu kommen nimmt er freilich auch als eine Art „Heimkehr“. Sowohl die Staatsoper alsauch der große Musikverein gehören zu seinen Lieblingszielen, die er immer wieder ansteuert.Karajans „Schuld“Im Goldenen Saal wird man ihn mit seiner Staatskapelle so oft wie möglich erleben, sagt er,was für das Wiener Publikum bedeutet, dass es einen breiten Querschnitt durch dasO rchesterrepertoire dieses Interpreten quasi an die Haustür „geliefert“ bekommt.

Die beiden Konzerte im Mai dominiert die Musik Anton Bruckners. Dessen Vierte und Neunte Symphoniestehen auf dem Programm. Für Thielemann Kernstücke des Repertoires, mit denen er sich seitJahrzehnten beschäftigt. Schon als Teenager war er von dieser Klangwelt fasziniert: „Ich glaube“, sagt er, „an allem ist irgendwie Karajan schuld.“ Die prägende Interpretenfigur inThielemanns jungen Jahren ging so souverän mit Bruckner um, dass dem noch kindlichen Musikfanatiker nichts an dieser Musik kompliziert schien: „Viele Gleichaltrige“, sagt Thielemann, „meinten, das sei so lahm, da ist nichts los. Für mich gehörten die Bruckner-Symphonien schon mit 13 zum Unglaublichsten. Sogar die Fünfte, wo immer alle sagen, diesei so kompliziert, hat mir nie Schwierigkeiten bereitet.“

Trügerische Popularität

Dafür hat er auch eine Erklärung parat: „Ich denke, das liegt daran, dass einer, der Klavierspielt, bald einmal mit Bach zu tun hat, mit dem ,Wohltemperierten Klavier‘ zum Beispiel. Undwenn mir dann jemand sagt, das sei so kompliziert, die vielen Elemente, die Bruckner damiteinander kombiniert, dann denke ich: Guck doch mal in die ,Kunst der Fuge‘, da istmindestens genau so viel los ...“

Genauer betrachtet, sei, so Thielemann, die viel häufiger gespielte Vierte Symphonie einemindestens so heikle Herausforderung: „Natürlich, der Komponist hat sie selbst als seine,Romantische‘ bezeichnet, und der berühmte Horn-Beginn geht natürlich ins Ohr. Aber dennoch hat mich immer gewundert, dass gerade dieses Werk als populär gilt. Es istproblematischer, als man denkt. Schon der zweite Satz birgt seine Tücken; und das Finale ist wirklich hoch kompliziert, aus völlig mysteriösem Beginn arbeitet sich das erst langsam hoch.“

Der einigende Bogen

Über solch zerklüftete Landschaften einen einigenden Bogen zu spannen, das sei, soThielemann, seine eigentliche Aufgabe: „Wenn der Eindruck entsteht, die Musik sei vollerformaler Brüche, wie man das so oft behauptet, dann bedeutet das nur, dass die Interpretenemotional jedes Mal die Spannung verlieren. Es geht darum, die Dinge miteinander zuverbinden!“ Das sei die Herausforderung.Eine Herausforderung, der er sich freilich „immer gern“ gestellt hat. „Zwischendrin lässt mansolche Stücke dann natürlich wieder liegen.“ Auch habe sich sein Zugang zu Brucknernaturgemäß mit den Jahren verändert. Allein: Die Spannweite, die ein Komponist wie diesereinem Interpreten bietet, sei immens.

Auf der jüngsten Tournee hatten die Dresdner die Neunte Bruckner im Gepäck: „Ich habe eigentlich bei jeder Aufführung andere Tempigenommen“, berichtet Thielemann.Bruckners Abschied und Feuerzauber„Immer etwas Neues probieren“, lautet das Motto, den Geheimnissen solch vielschichtigerMeisterwerke auf die Spur zu kommen. Gerade die Neunte, mit deren Finale der Komponistnicht und nicht zurande kommen konnte, birgt ja Rätsel in Fülle. „Vielleicht“, sagt Thielemann, „das denke ich mir oft, wollte Bruckner am Ende gar keinen vierten Satz für diese Symphonieschreiben. Vieles, was vom Finale erhalten ist, klingt doch recht disparat, als hätte er etwasgesucht und nicht gefunden. Ich habe mich lange mit diesem Finale beschäftigt, auch dieRekonstruktionsversuche studiert, die es gibt. Man kennt die Geschichten, was der Komponistda alles vorgehabt hätte, wie viele verschiedene Themen er miteinander angeblichkombinieren wollte.“

Die Praxis lehrte den Interpreten: „Am besten ist es, man lässt es, wie es ist.“ Das Ende in derfür eine d-Moll-Symphonie völlig aparten Tonart E-Dur erinnere ihn jedenfalls an „Wotans Abschied“ und den „Feuerzauber“ in der „Walküre“, ein Musikdrama, das ja bemerkenswerterweise ebenfalls in d-Moll beginnt.

Raffiniert gebautDass der Bayreuth-Pilger Bruckner, der durch die Verwendung von Wagner-Tuben in seinenletzten drei Symphonien auch klanglich die Nähe zum Opern-Meister sucht, ähnlicheAssoziationen gehabt haben könnte, ist jedenfalls nicht von der Hand zu weisen. Dass dasMusikvereins-Gastspiel der Dresdner mit Gesungenem von Schubert und Wagner (Solist:Christian Gerhaher) anhebt, darunter Hans Sachsens „Fliedermonolog“ (dessen Herzstück,nota bene, in E-Dur steht!) ist wiederum beim Wagnerianer Thielemann nicht verwunderlich.Vor der Neunten spielt man allerdings Sofia Gubaidulinas Violinkonzert „in tempus praesens“. Solist Gidon Kremer hat Thielemann auf dieses Werk schon vor Jahren aufmerksam gemacht.

Das stieß auf begeisterten Widerhall: „Ein tolles Stück“, sagt der Dirigent, „raffiniert gebautmit seinen Ritornellen“, sodass ein Hörer auch beim ersten Mal den Effekt desWiedererkennens fühlen kann, dabei „gar nicht grell, mit vielen gedeckten Farben undirgendwie auf merkwürdige Weise dem Bruckner verwandt“. Die Kombination Gubaidulina/Bruckner hat sich in München und jüngst auch Dresden jedenfalls bestensbewährt: „Vor allem haben wir nach jeder Aufführung das Gefühl: Kinder, das ist wieder schnell vorbeigegangen.“

↑DA CAPO

→ Im Gespräch 2006