Der Beethoven-Zyklus

Eine Zwischenbilanz der Arbeit Christian Thielemanns mit den Wiener Philharmonikern

Unzeitgemäße Betrachtungen?

Erschienen im Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde, April 2010

Zwischenbilanz und Prognose eines außerordentlich spannenden Projekts: Drei Werke stehen noch aus. Dennoch sei eine vorsichtige Zwischenbilanz gewagt: Keine Gesamt-Aufführung der neun Symphonien in den vergangenen Jahrzehnten war so spannend zu verfolgen wie diese. Christian Thielemann und die Wiener Philharmoniker in jenem Repertoire, das stets als das Epizentrum aller Symphonik emfpunden wurde.

Es ist noch nicht allzu lange her, dass ein Dirigent, wenn er daran ging, in Wien Beethoven zu erarbeiten, überStilfragen nicht debattieren musste. Man hat zur Kenntnis genommen, dass der „Gott, der über Sternen wohnet“ bei Leonard Bernstein in einer ganz anderen Galaxis daheim war als bei, sagen wir, Karl Böhm.

Mehrfach antithetische Bewegung

Doch wenn ein Künstler im Jahr 2010 Beethovens Partituren liest, dann hat er nolens volenseine Interpretationsgeschichte mitzudenken, die dank der rasanten Entwicklung der Tonaufzeichnung in kaum überschaubarer Fülle dokumentiert ist.

Wer heute die „Eroica“ aufführt, hat ein Publikum zu gewärtigen, das vielleicht weniger über Widmungsträger Napoleon Bonaparte Bescheid weiß als über die Tatsache, dass bei der Uraufführung dieser Symphonie im später nach ihr benannten Saal in einem Wiener Palais nur eine Handvoll Musiker beteiligt war. Aus dem monumentalen Breitwand-Gemälde um eine theatralisch-tragische Trauermarsch-Tondichtung ist in der Anschauung vieler ein schlankes, auf ein sieghaft-tänzerisches Finale hin gesteigertes Stück geworden.

Solche Perspektiven-Changements kann ein Interpret nicht ignorieren. Wer Beethoven heute zum Klingen bringen wollte wie einst Furtwängler oder Hans Knappertsbusch, würde kläglich untergehen.

Wer freilich um die Genesis unserer Beethoven-Sicht weiß, die in mehrfacher antithetischer Bewegung aus der romantischen Spieltradition gewachsen ist, der arbeitet aufeinem weitaus höher gelagerten Aussichtspunkt als alle, die blindlings der geradeherrschenden Mode gehorchen – und Beethoven, was derzeit gern geschieht, auch in großenSälen mit einer Minimalbesetzung aufführen, als gelte es, dem Fauteuil des Fürsten Lobkowitzauch heute noch den gehörigen Abstand zu den Musikanten zu sichern.

Botschaft mit Sprengkraft

Eine kleine Musikergemeinschaft, die ein Crescendo im „Eroica“-Saal gewaltig anwachsen lassen kann, würde im Goldenen Musikvereinssaal leicht als allzu schmales Häuflein aufrechter Kämpfer für eine Sache erscheinen, die gerecht sein mag, aber letztlich scheitern muss. Scheitern am Anspruch der inneren Dimensionen der Musik, der Botschaft, die der Komponist offenkundig auszusenden wünscht. Diese Botschaft wiederum bedingt entsprechende „äußere“ Dimensionen, Klang-Dimensionen.

Diese zu erreichen scheint, so viel kann nach den ersten drei Abenden schon gesagt werden,Christian Thielemanns Ziel. Er scheut nicht davor zurück, hörbar zu machen, dass Beethoven nicht nur der Nachfolger Mozarts und Haydns ist, sondern auch jener Komponist, der diespätere Ausweitung des symphonischen Gedankens in Bruckner’sche und Mahler’sche Dimensionen ermöglicht hat – nicht nur mit dem kühnen Konzept der Sprengung aller damaligen Formvorstellungen in der Neunten, sondern bereits mit der für jene Zeit immensen Ausdehnung der symphonischen Form in der „Eroica“. (Haydns letzte „Londoner“Symphonie, gerade einmal halb so lang wie Beethovens Dritte, war damals noch keine zehnJahr alt!).

Aufbruch in neue Welten

Diesen großen Atem spürbar zu machen gelang Thielemann sogar in den ersten beiden Symphonien, ohne dass unter diesem Anspruch das Gebot der Schlankheit und Transparenzdes Klangbilds gelitten hätte. So ist der kühne Septakkord, mit dem Beethoven seins ymphonisches Schaffen eröffnet, weniger als freche Geste eines Feuergeists zu empfinden, der seinen Zeitgenossen eine lange Nase dreht, eher schon als Signal zum Aufbruch in ungeahnte neue Welten, die in die utopischen Regionen des Finalsatzes der Neunten münden.Das ist wohl die eigentliche Herausforderung jeder zyklischen Betrachtung dieses so rätselhaft konsequenten symphonischen Eroberungsfeldzugs: Das Wagnis Beethovens als solches begreiflich zu machen.

↑DA CAPO

→ Im Gespräch 2006