Ignoranz, Wahnsinn und Methode

Die Salzburger Festspiele haben über die Jahrzehnte hin auch viele Uraufführungen herausgebracht, die wenigsten sind der Welt freilich im Gedächtnis geblieben

Mit einer Uraufführung ("The Exterminating Angel") hob der Premierenreigen der Salzburger Festspiele 2016 an. Überdies erinnern zwei Premieren an spektakuläre Uraufführungen der Festspielgeschichte: "Der Ignorant und der Wahnsinnige" und "Die Liebe der Danae". Ein Feuilleton versuchte im Vorfeld das Problem Uraufführungen bei Festspielen zu umkreisen.

Festspielintendant Sven-Eric Bechtolf beschwört als Schauspieler den legendären "Notlicht"-Skandal von 1972: Im Finale von Thomas Bernhards Stück sollten buchstäblich sämtliche Lichter ausgehen. Die Feuerpolizei ließ es bei der Generalprobe geschehen. Bei der Premiere leuchtete das Notlicht jedoch bis zum Ende der Vorstellung - woraufhin sich Regisseur Claus Peymann alle Folgevorstellungen verbat. Die Affäre lebt als Pointe in Bernhards "Theatermacher" weiter, der 1985 ungestört zur Festspieluraufführung - und drei Reprisen - kam.

Während Bernhards Theaterstücke immer wieder auf die Spielpläne kommen, ergeht es den meisten in Salzburg aus der Taufe gehobenen Musiktheaterwerken wie den übrigen Sprechtheaternovitäten. Wer hat jenseits des Festspielbezirks beispielsweise je Fritz Hochwälders "Lazaretti oder Der Säbeltiger" zu sehen bekommen?

Und welcher kundige Opernfreund hat jenseits von Salzburg Richard Strauss' "Liebe der Danae" szenisch erlebt? Ihr gilt die zweite große Vergangenheitsbeschwörung dieses Sommers. "Danae" sollte 1944 im Festspielhaus zur Aufführung kommen, doch ließ die NS-Führung, die eben den "totalen Krieg" ausgerufen hatte, die Produktion nur bis zur Generalprobe gedeihen. Die tatsächliche Uraufführung ging erst 1952, drei Jahre nach dem Tod des Komponisten, über die Bühne.
Wer da meint, es sei eine der vornehmsten Aufgaben eines Festivals, neben der Pflege der Tradition auf höchstem Niveau auch konsequent Neues herauszubringen, resigniert angesichts der Salzburger Chronik. Schon Hugo von Hofmannsthals Versuch, mit dem "Salzburger großen Welttheater" so etwas wie ein theatralisches Markenzeichen für sein Festival zu entwerfen, scheiterte: Der ältere "Jedermann" ließ sich von seiner schon bei den allerersten Versuchsfestivals eingenommenen Führungsposition auf dem Domplatz nie verdrängen.

Edle Uraufführungstaten? Nicht zuletzt aus finanziellen Erwägungen spielte man in der Folge vorrangig Schiller, Shakespeare und Goethe, Mozart, Beethoven und Richard Strauss, dessen 1944 einstudierte, 1952 uraufgeführte "Danae" zum Bindeglied wurde. Ab den späten Vierzigerjahren versuchte Gottfried von Einem nach dem Erfolg seiner für Salzburg komponierten Büchner-Oper "Dantons Tod", 1947, Weltpremieren als fixen Bestandteil der Festspieldramaturgie zu etablieren.

Neben seiner eigenen Kafka-Oper "Der Prozess" (1953) spielte man Novitäten von Frank Martin, Carl Orff, Boris Blacher, Rolf Liebermann, Werner Egk, Rudolf Wagner-Regeny oder Heimo Erbse. Von Titeln wie "Das Bergwerk zu Falun", "Die Schule der Frauen" oder "Irische Legende" hat kaum ein Musikfreund je wieder etwas gehört.

Anfang der Sechzigerjahre - von Einem hatte sich längst zurückgezogen, weil er wegen des Versuchs, Bertolt Brecht in Salzburg eine Heimstätte zu schaffen, unter schweren Beschuss geraten war - zog man die Notbremse. In der Ära Karajan nutze man das Ius primae noctis kaum. Immerhin gelang Hans Werner Henze 1966 mit seinen von Wystan H. Auden gedichteten "Bassariden" (nach Euripides) eine Novität, die bis ins 21. Jahrhundert hinein immer wieder neu zur Diskussion gestellt wurde und wird.

Doch die Spekulation, dem Meister der populären "Carmina burana", Carl Orff, ein Auftragsstück zu entlocken, ging nicht auf: Das düstere "Spiel vom Ende der Zeiten" ("De temporum fine commoedia") wurde 1973 ein Flop, trotz Karajan am Dirigentenpult!

Höhere Chancen gaben die Kommentatoren später Friedrich Cerhas Brecht-Vertonung "Baal". Die Premiere mit Theo Adam - 1981, im selben Sommer wie Thomas Bernhards Novität "Am Ziel" mit Marianne Hoppe! - war ein Sensationserfolg, und doch wagt sich (wohl auch aufgrund der immensen personellen Anforderungen) bis heute kaum ein Haus an das Werk.

Auch spätere Salzburger Weltpremieren aus der Feder prominenter Komponisten fanden kaum Abnehmer, Krzysztof Pendereckis "Schwarze Maske" oder Luciano Berios "Re in ascolto" erreichten zwar den Koproduktionshafen Wiener Staatsoper, kaum aber andere internationale Opernzentren. Danzig startete mit Pendereckis Stück jüngst einen bescheidenen Wiederbelebungsversuch . . .

Nicht viel besser erging es den meisten Auftragsstücken der jüngeren Festspielvergangenheit, gerade einmal Kaija Saariahos Troubadour-Melodram "L'amour de loin" wird hie und da nachgespielt, und ein weiterer Auftrag an Henze zeitigte 2003 das "deutsche Märchen" mit dem italienischen Titel "L'Upupa", das es auf die eine oder andere Wiederholung brachte.

Der Opern-Dreisprung. Heuer gibt man Thomas Ades' drittes Musiktheaterwerk, "The Exterminating Angel". Diesem Komponisten war es immerhin gelungen, 1995 aus dem Stand mit "Powder Her Face" eine weltweit nachgespielte Oper zu schreiben. Allein kommende Spielzeit gibt es davon sieben Produktionen zwischen Milwaukee und Kopenhagen! Auf den jüngst auch an der Wiener Staatsoper erfolgreichen "Tempest" folgt nun der Salzburger Engel. Bricht er den Bann?



Die Anwtort auf die rhetorische Frage versuchte die Rezension der Uraufführung zu geben. →

Die Oper als Spiegel unserer Angstgesellschaft

Salzburger Festspiele. Der erfolgreiche Musiktheaterkomponist Thomas Ades hat aus einem Film Luis Bunuels ein fesselndes szenisches Vexierspiel gemacht: Angenehme Musik umfließt ein böses Spiel vom Zerfall der Zivilisation.
Luis Bunuels "Würgeengel", ein surrealistischer Film, als Grundlage für ein Opernlibretto? Wer meint, daraus müsse ein künstlerisches Glasperlenspiel werden, das niemanden etwas anginge, irrt offensichtlich: Das Uraufführungspublikum im kleinen Salzburger Festspielhaus folgte den drei Akten des "Exterminating Angel" mit spürbarer Spannung und bejubelte den dirigierenden Komponisten schon zur Pause.
Empfindet die derzeit von äußeren Angriffen in Angst versetzte Gesellschaft die Erzählung von einer gut situierten Runde, der es auf magische Weise nicht möglich ist, nach dem Souper den Salon zu verlassen, als Spiegelbild der eigenen Situation?
Diese im wahrsten Sinn geschlossene Gesellschaft hält, wie sich zeigt, nur noch ein Gerüst offenbar längst sinnentleerter Sitten-und Verhaltenskodices aufrecht. Es bricht morsch in sich zusammen, sobald die handelnden Personen in eine Existenzkrise schlittern.

Die Zivilisation scheitert

Dann regieren bald nur noch Egoismus, Brutalität, atavistischer Überlebenstrieb. Es ist die Zivilisation, die hier zusammenbricht. Von Kultur beziehungsweise deren Restbeständen ist längst nur noch die Rede. Kurioserweise ist es eine Operndiva, die mit ihrem Lied zuletzt die Türen zu öffnen vermag; freilich geben sie nur den Weg frei in die nächsthöhere Ordnung eines Gefängnisses.
Das ist übrigens die finale Pointe, die bei Bunuel gar nicht zu finden ist. Sie ist eine Erfindung des Komponisten und seines Librettisten und Regisseurs Tim Cairns.
Die beiden Autoren geben ihr Stück vernünftigerweise auch nicht aus der Hand, sondern bestimmen selbst, wie es in der verschiebbaren Wohnzimmerkulisse Hildegard Bechtlers abläuft: In ständig wechselnden Perspektiven immer des gleichen Szenariums fokussiert sich der Blick des Zuschauers immer wieder auf andere Personen.
Ihnen sind dann, weil aus dem Film doch eine Oper geworden ist, kleine Monologe und Arien gegönnt. Die beiden Verlobten, Sophie Bevan und Ed Lyon, dürfen sogar in jedem Akt ein Duett singen, ansteigend in Länge und melodischer Intensität: Zuletzt haben sie sich in einen imaginären Kokon eingesponnen und suchen den Freitod.
Je nach Temperament, vielleicht auch je nach erreichtem Stadium der Dekadenz, reagieren die übrigen Gestalten mehr oder weniger panisch auf die Situation. Manchen wird die Ausweglosigkeit lang nicht klar. Anne Sofie von Otter darf in einem mild strömenden Chanson beweisen, wie herrlich ihr Mezzo noch tönt. Das ist - wie das von Christine Rice gesungene Klavierlied - einer der Ruhepunkte, die Ades dem Publikum wie seinen Sängern gönnt.

Das "makabre Wiegenlied"

Die Soprane hingegen treibt er - wie schon in seinen früheren Werken - in schrille Höhen. Audrey Luna kichert sich als Primadonna sogleich mit einem dreigestrichenen A ins Geschehen herein. Auch Sally Mathews und ihr überzüchteter Bruder - Iestyn Davies verwandelt Arroganz und Weltabgehobenheit virtuos in Countertenortöne - müssen hoch hinaus; doch schenkt Ades ihr zuletzt eine traumverlorene "Berceuse macabre": Einen Tierkadaver in den Armen, besingt die Mutter die Liebe zu ihrem Sohn.
Diesen versuchen die Draußengebliebenen einmal im Verlauf der Handlung in die verwunschene Villa zu schicken; das Wagnis scheitert: Der kleine Leonhard Radauer läuft - im rechten Moment im höchsten Kinderstimmenregister "Mama" rufend - davon.

Ein hohes C als Mindestqualifikation

Im Übrigen sind die Sänger dazu angehalten, Extremwerte auszuloten. Ein hohes C, der Diener (John Irvin) hat es bereits im ersten Takt zu absolvieren!, ist sozusagen die Mindestqualifikation, die Tenöre für Ades mitbringen müssen. Von den zwangsläufig nur noch an der Grenze zum Schrei zu bewältigenden Sopranattacken zu schweigen: Amanda Echalaz als Gastgeberin bewahrt demgegenüber wie angesichts der sich steigernden Irrationalität der Handlung lange Zeit Stimme und Contenance. Charles Workman als ihr Gatte verliert seine Noblesse nicht einmal in jenem Moment, in dem er sich als Opferlamm darbietet.
Fels in der Brandung bleibt John Tomlinson als Arzt: Der Doyen unter den Bassbaritonen besticht naturgemäß weniger durch vokale als durch schauspielerische Präsenz.
Warum der Komponist viele der Gesangspartien in beschwerliches Grenzgängertum ausarten lässt, scheint insgesamt doch unerklärlich. Dem solistisch auch extreme Regionen durchforstenden Orchester (RSO Wien) schenkt er - bei höchsten rhythmischen Komplikationen - viele ruhig strömende, kontemplative Passagen und instrumentiert insgesamt so differenziert, dass kaum je grelle Dissonanzen verstören. Die Farbpalette scheint stets harmonisch subtil gemischt; beinah zu subtil in Augenblicken höchster Verdichtung, die sich szenisch durchaus einstellen. Deren musikalische Untermalung wirkt dann oft geradezu verharmlosend.
Kalkül vielleicht auch das. So bleibt dem Festspielpublikum doch die Möglichkeit anzumerken, die Musik hätte gar nicht wehgetan. Es ist ja - apropos zivilisatorische Verpflichtungen - mit Uraufführungen ein wenig so wie mit Besuchen beim Zahnarzt.

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